Auf Teneriffa könnt ihr gestrickte Lebenslust in vielen Orten finden, Puerto de la Cruz, Santa de Cruz oder der Kirchplatz in Igueste de San Andrés sind nur drei Beispiele …
Eine Wollmütze für den Stromkasten oder ein Häkelbikini für die Statue – mit bunten Maschen für eine schönere Welt. In Nacht- und Nebelaktionen verändern sich durch gestrickte Bänder, Blumen oder anderen Dekostücken Plätze und Straßenränder. Es werden sogar ganze Bäume, Palmen, Laternenmasten oder Schilder eingestrickt. Graffiti war gestern – heute wird gestrickt und gehäkelt! Aber was haben rebellische Graffitis eines Sprayers und die Strickkünste einer Großmutter gemeinsam?
Auf den ersten Blick nicht viel. Kombiniert aber ergeben sie einen neuen Trend der Kunstszene.Handarbeiten wie Häkeln und Stricken sind seit zwar seit ewigen Zeiten bekannt und wir mussten es noch in der Schule lernen. Im Handarbeitsunterricht wurden wir stundenlang gequält, um lange, verworrene, bunte Wollfäden mit Hilfe von zwei spitzen Nadeln und schwitzenden Händen in unförmige Schals, Socken und Topflappen zu verwandeln. Bunte Schals und geringelte, handgestrickte Pullover waren der Höhepunkt während der Flowerpower-Zeit und jeder junge Mensch, der dazu gehören wollte, schlang sich so einen meterlangen, kunterbunten Schal um den Hals. Egal ob Winter oder Sommer.
Die Blumenkinder wurden erwachsen, die Wolle immer teurer und die Strickwaren in den Kaufhäusern immer moderner und billiger. Stricken? Wer wollte da noch stricken? Niemand, es war ganz einfach nicht mehr chic und selbstgestrickte Pullis waren out. Damit konnte man niemanden mehr locken, der Geist der Zeit hatte sich geändert. Vor einigen Jahren hat sich die Einstellung der Menschen, wenn auch nur langsam und schleichend, geändert. Immer mehr Erdbewohner wollen aus der Masse aussteigen. Sie wollen anders sein als die anderen. Sowohl in der Küche als auch im Kleiderschrank.

Hausfassade in Puerto de la Cruz
Die gehäkelten und gestrickten Maschen haben einen Imagewandel erlebt, es wurde hipp, mit etwas Fantasie und handwerklichem Geschick extravagante Unikate zu zaubern. Häkeln und Stricken hat heute nichts mehr mit Häkeln von gestern zu tun. Es sind nicht mehr nur die Omas, die wie früher, aus finanzieller Not gehäkelt haben, vielmehr häkeln heute viele Junge, auch junge Männer, die sich einfach aus der Monotonie herausbewegen wollen und damit ihren individuellen Stil betonen und hervorheben möchten. Doch was hat dieser Trend um Gottes Willen mit den bunt umwickelten Baumstämmen und Ästen zu tun?

Urban Knitting in Santa Cruz de Tenerife
Sagt euch der Name Guerilla Knitting etwas? Mit Krieg und Terror hat es zum Glück nichts zu tun. Schon eher mit bunten Farbtupfen in unserer sonst oft so grauen Welt. Der Name setzt sich aus dem spanischen Wort guerilla, also kleiner Krieg, und dem englischen Wort für stricken, knitting zusammen. Das Phänomen Guerilla Knitting ist auch unter Yarn Bombing oder Urban Knitting bekannt. Es bedeutet, dass Gegenstände im öffentlichen Raum mit gestrickter oder gehäkelter Wolle verziert werden. Die Hersteller der bunten Werke fragen in den meisten Fällen nicht um Erlaubnis um ihre Kunst auszustellen. Manchmal haben die Aktionen auch einen politischen Hintergrund, aber meistens sollen die Farben nur Farbtupfen in das stumpfe Grau der Städte setzen. Die Strickguerilla-Aktivisten nutzen die Wolle, um wieder Wärme in den tristen öffentlichen Raum zu bringen.
Dabei schmücken sie alle möglichen Gegenstände von Skulpturen über Bäume bis hin zu Bauzäunen, Strommasten, Telefonzellen oder Straßenlaternen mit Häkeleien oder Strickmustern. Urban Knitting irritiert und bringt Wärme in die Großstadt. „Als ob eine verrückt gewordene Oma durch die Stadt läuft und alles vollhäkelt“, beschreibt der Münchner Künstler Klaus Erich Dietl im Interview mit der Süddeutschen Zeitung das Urban Knitting.
Wie so viele Trends ist auch diese Strömung von Amerika nach Europa geschwappt. Den Ursprung von dieser Kunstart findet man nämlich in Amerika, genau gesagt in der texanischen Stadt Houston. Dort gründete Magda Sayeg im Jahr 2005 die Gruppe Knitta Please, die auch unter dem Namen Knitta bekannt wurde. Die junge Frau umstrickte aus einer Laune heraus die Türklinke ihres Ladens. Sie wollte mehr Farbe in ihre langweilige, graue Umgebung bringen. „Die Reaktionen darauf waren so begeistert, dass ich wusste – davon wollte ich mehr machen! Leute kamen in mein Geschäft und fragten: ‚Was ist das? Welcher Künstler hat das entworfen?‘ Deshalb habe ich meine Freundin angerufen und gesagt: ‚Es klingt vielleicht blöd, aber mach einfach mit! Ich möchte den Pfahl des Stoppschilds am Ende der Straße umstricken.‘ Bald sah ich, wie Leute mit dem Auto anhielten, das Strick-Tag fotografierten und sich verwundert am Kopf kratzten. Damals wurde die Idee geboren – lass und das auf die Straße bringen – nach der Art von Graffiti! Lass uns alles Mögliche mit gestrickten Tags versehen.“
Dank der vielen aktiven Mitgliedern der Gruppe von Knitta verbreitete sich die Strickwut mit den bunten Wollfäden in wenigen Jahren in Nordamerika und in Europa. Eines der ersten Strickgraffitis Europas tauchte 2010 in Frankfurt am Main auf. Schnell folgten Strickgraffitis in Berlin und anderen deutschen Städten. Inzwischen sind die handgearbeiteten Verschönerungen zu einem nahezu weltweit verbreiteten Phänomen geworden. Auch in Frankreich, England und Spanien gibt es aktive Gruppen.
Die Bewegung findet immer mehr Anhänger. Frauen und Männer umstricken Laternenpfähle oder eben ganze Bäume, binden wollene Banner an Zäune oder werfen gestrickte Früchte in Hecken und Äste. Inzwischen gibt es – wie in Puerto de la Cruz – sogar die ersten öffentlichen Aufträge. Die bunten Gebilde gefallen einfach, sie beschädigen nichts und sind problemlos wieder zu entfernen. Mit Anarchie hat solche Auftragskunst also absolut nichts zu tun! Sie wollen dem tristen öffentlichen Raum etwas Wärme zurückzugeben, ohne dabei etwas zu beschädigen. Ein für die meisten Strickerinnen gültiger Grundsatz wurde von Magda Sayeg formuliert: „Wer von uns umwickelte Gegenstände anschaut“, so Magda Sayeg, „wird weder ärgerlich noch wütend. Er wird glücklich.Wenn wir die Menschen mit unserer Aktion ein bisschen positiv irritieren können und Fröhlichkeit und gute Laune vermitteln, dann haben wir unser Ziel erreicht“

bunte Palmen in Puerto de la Cruz
Die Strickarbeiten reichen von einfachen Rechtecken zum Umwickeln von Laternenmasten bis hin zu Pullovern für Statuen oder Hüllen für Busse, Autos und andere Großobjekte. Es gibt Arbeiten aus nur einer Maschenart, aber auch Kunstwerke aus mehreren Farben und mit verschiedenen Mustern. Der Kreativität sind keine Grenzen gesetzt. Blumen, Elefanten, Sterne, ein Leuchtturm, Figuren und kuschelige Wärmer für Mülltonnen. Flauschige Wollkunst soll Farbe in die Welt bringen und überall gibt es was zu entdecken.
Bei Yarn Bombing kann jeder mitmachen. Es ist billig, leicht zu erlernen und damit eine demokratische Kunst. Die gestickten, gestrickten oder gehäkelten Graffiti haben einen klaren Vorteil im Vergleich zu den gesprayten Vorbildern – sie hinterlassen keine Spuren und fallen aus diesem Grund auch nicht unter Sachbeschädigung. In vielen Großstädten gibt es regelmäßige Strickkränzchen, bei denen Strickinteressierte bei Kaffee zusammensitzen und Tipps und Tricks von einer Strickdesignerin lernen. Stricken macht Spaß, entspannt und ist Sport für die Finger. Deswegen greifen auch junge Menschen zu Stricknadeln. Urban Knitting ist absolut im Trend – und jeder kann mitmachen um Laternen, Schilder und Ampeln zu umgarnen. Stricknadel und Wolle geschnappt und los geht’s! Stricken als Omabeschäftigung gehört endgültig der Vergangenheit an!
•*¨*•❥ „Die Kunst gibt nicht das Sichtbare wieder, sondern macht sichtbar.“ Paul Klee